ANGST VOR KONTROLLVERLUST ?
 

Die Verunsicherung und Wut der Bürger. Wie können Mehrheiten und Minderheiten ein funktionierendes Miteinander erreichen? Was hält uns zusammen?

Eine Podiumsdiskussion in Bonn zum Thema Integration


 

Von der Willkommenskultur bis hin zu den neu erlebten 'No-Go-Areas', in denen Clan-Kriminalität praktiziert wird, sehen die Bürger die Migrationswelle inzwischen differenzierter und besorgter. Doch Zuwanderung ist sehr nötig geworden, und neue Fachkräfte werden dringend gesucht.

 

In der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik, kurz auch BAPP genannt, trafen sich im Januar viele interessante Gäste: Prof. BODO HOMBACH, Präsident der Bonner Akademie. SERAP GÜLER, Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration im Kabinett von Armin Laschet. FRANK RICHTER, Polizeipräsident in Essen. ULRICH REITZ, Autor und ehemaliger Chefredakteur des Focus. Prof. Dr. JÖRG BOGUMIL, Professor für Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. SONJA FUHRMANN, Journalistin und Moderatorin bei WDR und phoenix, leitete die Podiumsdiskussion.

 

Mit seinen einleitenden Worten verwies Bodo Hombach, Präsident der Bonner Akademie, auf den polarisierenden Effekt, den das Thema der Veranstaltung auf die Gesellschaft ausübe. „Wir leben in einer Zeit, in der 'Fakes' Fakten verdrängen“ – Diese Beobachtung treffe ganz besonders auf die Integrationsdebatte zu. Die demokratische Tugend, dem Meinungsgegner zuzuhören, müsse in derart aufgeheizten Zeiten verteidigt werden.

Zu Beginn ihrer Rede positionierte sich Serap Güler zu dem Veranstaltungstitel. Die infrage gestellte Kanzlerinnenaussage wolle sie nicht „blind“ wiederholen: „Wir schaffen das – wenn wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen!“, lautete deshalb die Stellungnahme der Staatssekretärin. Sie betonte, dass Spracherwerb einer der wichtigsten Faktoren für gelungene Integration sei. Dies sei erkannt worden und werde in Form von Integrationskursen heute viel stärker gefördert als noch bei früheren Einwanderungsgenerationen. Dennoch sei es notwendig, diese Angebote weiter auszuweiten. Zudem kritisierte Güler die
marginale Rolle, die die vielen Beispiele für gelungene Integration in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen – ohne auf diese Weise jedoch die bestehenden Herausforderungen zu relativieren.

 

BEKÄMPFUNG DER CLAN-KRIMINALITÄT

Bezüglich der Clan-Kriminalität erwähnte Frau Güler, dass die Bekämpfung dieser Kriminalität ein wichtiger Teil des Koalitionsvertrages von 2017 sei. Als Maßnahmen nannte sie neben konsequenten und konzentrierten Einsatzmaßnahmen der Polizei auch die Stärkung von Präventionsarbeit und Integrationsmodellen. Als Beispiel hierfür führte sie das „Essener Modell“ an, nämlich dass Menschen, die sich etwa durch ehrenamtliches Engagement auszeichnen, bei dem Erwerb eines sicheren Aufenthalts unterstützen und ihnen eine Bleibeperspektive ermöglichen möchte. Insgesamt hat die Stadt Essen etwa 20.000 geflüchtete Menschen aufgenommen, die beispielsweise auch durch Familienzuzüge oder Umzüge aus anderen Städten oder Bundesländern dorthin gekommen sind. Für die meisten dieser Menschen ist das Asylverfahren bereits abgeschlossen. Mit Stand 6.1.2020 sind insgesamt 568 Flüchtlinge in den städtischen Unterkünften Essens untergebracht. Aber 'Kettenduldungen' sind ein Problem und die Bürokratie bremst Integration, kritisiert Frau Güler. Einmal im Monat zur Ausländerbehörde gehen zu müssen, also zwölf Urlaubstage quasi für die Ausländerbehörde opfern. Das ist schon eine große Hürde.

Viele der Flüchtlinge können ALG-II Formulare nicht ausfüllen. Die Beratungsstruktur soll verbessert werden. Wir haben hier 1,1 Millionen anerkannte Flüchtlinge. Weniger Einzelprüfungen und mehr Pauschalierungen würden hier helfen. Das System sollte reformiert werden. Es dauert 5-10 Jahre für eine Asylanerkennung. Etwa 60% der Flüchtlinge sind 16-24 Jahre alt.

 

Fehler aus der Vergangenheit dürfen NICHT wiederholt werden. In NRW haben 5,1 Millionen Menschen eine Einwanderungsgeschichte. In Köln leben Menschen aus 181 Nationen.
Vielfalt ist aber auch anstrengend, betonte Serap Güler. Flüchtlinge mit einer geringen Bleibe-Perspektive sollten ebenfalls Deutsch-Unterricht erhalten.

KLARE KANTE ZEIGEN

Wenn nicht schnell integriert wird, und wenn die Flüchtlinge und Zuwanderer nicht relativ früh eine Arbeit erhalten, kann die Clan-Kriminalität zu einem Problem werden. Dies ist Realität geworden, wie der Polizeipräsident Frank Richter berichtet. Es handelt sich hauptsächlich um türkisch-arabische Clans. Es wird mit Drogen aus dem Libanon gehandelt. Es geht um das Streben nach Macht mit den falschen Mitteln. 34 % der Mitglieder der Clans haben einen deutschen Paß. Es soll eine Verstärkung der Polizei und eine verbesserte Zusammenarbeit mit anderen Behörden geben. 900 Kontrollmaßnahmen zur Bekämpfung sollen durchgeführt werden. Etwa zwei Drittel der Deutschen erwarten Konflikte: 'No-Go-Areas' zum Beispiel. Viele haben Angst. Es geht hier auch um Syrer und Iraker, die teilweise traumatisiert sind. Die Clan-Mentalität funktioniert so: „Die Straße gehört uns“, sagen sie der Polizei. „Ihr habt hier nichts verloren!“ Es gibt wohl inzwischen bei uns einige Tausend Menschen, die gar nicht integrationswillig sind, betonte Polizeipräsident Frank Richter. 'Seit vielen Jahrzehnten leben wir in anderen Strukturen, und wir wollen weiterhin so leben', ist ihre Einstellung. „Unsere Gesellschaft wird als BEUTE-Gesellschaft bertrachtet. Das ist natürlich ein Problem. Hier muss die Geschäftsgrundlage entzogen werden“, erläutert er. Herr Richter ist zuständig für 740 000 Menschen in Essen und Mülheim/Ruhr, und berichtet, dass es nun NICHT mehr passiert, dass Polizisten von den Straßen vertrieben werden. Polizisten sind auf den Straßen anwesend. „Unsere Spielregeln gelten für ALLE,“ so Frank Richter: „Wir sind eine offene Gesellschaft, die darf aber nicht ausgenutzt werden. Wir müssen klare Kante zeigen, wenn Menschen sich nicht an die Regeln halten“.

 

ABSCHIEBUNGEN UND KOPFTUCHVERBOT


Der Autor Ulrich Reitz betont die ursprüngliche Naivität gegenüber dem politischen Islam, die hier damals vorgeherrscht hat. „Einige 100 Tausend Flüchtlinge, die abgeschoben werden müssen, aber tatsächlich bleiben“, meinte er. „Dies ist eine Übertreibung und eine Falschmeldung“, wurde jedoch schnell in der Podiumsdiskussion korrigiert. Es sind etwa 35.000 die abgeschoben werden müssen. Die anderen haben einen Duldungsstatus. Es gibt ca. 16 verschiedene Modelle auf kommunaler Ebene für Abschiebungen. Das macht es so schwierig. Köln ist hier ziemlich progressiv. Aber Serap Güler wünscht eine Vereinfachung und befürwortet eine Bundes-Einwanderungs- und -Abschiebebehörde. Eine gesteuerte Einwanderung wäre ein Fortschritt, hieß es.

Es gibt etwa 500.000 Aleviten in NRW, die etwas liberal eingestellt sind. Es gibt aber auch viele Islamverbände, die sehr orthodox eingestellt sind. Von den 400.000 Kindern in NRW kriegen nur 20.000 Kinder Religionsunterricht. Dieser Unterricht muss von Deutschland aus organisiert werden. Ein Kopftuchverbot für Kinder unter 14 Jahren in Schulen wird nun geprüft. Frau Serap Güler sagte, es sei egal, welche Meinung sie hierzu ganz persönlich habe. Das Problem sei ein juristisches. Das Verfassungsgericht muss dies nun klären. Die Situation in Österreich ist eine andere. Dort gibt es ein vom Parlament beschlossenes Kopftuchverbot für Schulkinder unter 14 Jahren. Österreich hat jedoch eine andere Verfassung, daher kann man das nicht vergleichen, betonte Frau Güler. In NRW wird nun diese Diskussion aufgeworfen. Kinder in diesem Alter seien religiös unmündig, lautet die Argumentation. Das Kopftuch zwinge sie in vorgefertigte Geschlechterrollen. Frau Güler äußert sich hierzu mit folgenden Worten: „In unseren Schulen in NRW wird nun aufgeklärt, und es wird geprüft, ob das Kopftuch unter ZWANG aufgesetzt wird“.

 

DULDUNGSSTATUS UND BLEIBERECHT DURCH ARBEIT

Die anschließende Diskussion auf dem Podium wurde von Sonja Fuhrmann mit einer Gegenüberstellung eröffnet: Die Willkommenskultur von 2015 sei heute einer mehrheitsgesellschaftlichen Skepsis oder gar Angst gewichen. Diese Auffassung teilte auch der Journalist Ulrich Reitz, der das Kippen der öffentlichen Stimmungslage eng mit der Kölner Silvesternacht 2015 verknüpfte. Darüber hinaus besäßen viele Bürger eine weitaus positivere Einstellung, wenn sie das Gefühl haben würden, dass der Rechtsstaat mit der Herausforderung fertig wird, so Reitz mit Blick auf nicht durchgeführte Abschiebungen. Dieser Aussage hielt Prof. Dr. Jörg Bogumil entgegen, dass die in den Medien kursierenden Zahlen häufig nicht zwischen der Ausreisepflicht und dem Duldungsstatus von acht bis zehn Jahren unterschieden, was ein verzerrtes Bild vermittle. Er kritisierte zudem die Beeinträchtigung von Integration durch Bürokratie, und forderte deshalb verbesserte Beratungsstrukturen. Verwaltungshürden sind zu verringern, meinte er. Der Essener Polizeipräsident Frank Richter verortete die Herausforderungen für Integration in der Entstehung von Parallelgesellschaften, die sich dem Rechtssystem nicht unterordnen. Dieses Problem sei nicht mit einem Sprachkurs getan, darüber hinaus müssten die SPIELREGELN unserer Gesellschaft vermittelt und durchgesetzt werden. Serap Güler stimmte dem zu und räumte politische Versäumnisse aus der Vergangenheit ein. Sie verwies jedoch auch auf positive Entwicklungen: So werde heute vielerorts aktiv die Stadtentwicklung in den Integrationsprozess miteinbezogen, um die Entstehung von sozialen Brennpunkten zu vermeiden.

Seit 1. Januar 2020 gilt die Beschäftigungsduldung, aber erst wenn sie 12 Monate Duldungspflicht abgeleistet haben. Das sollte abgeschafft werden. Sie müssen aber bereit sein, über ihre eigene Person Aufschluss zu geben. Das tun leider nicht alle sehr gerne, da viele Personen auch Angst haben. Es gibt eine weitere Initiative: 'Bleiberecht durch Arbeit'. Mit dieser bundesgesetzlichen Neuregelung sollen ausreisepflichtige Flüchtlinge, die sich durch ihren Beruf ihren Lebensunterhalt sichern und gut integriert sind, einen sicheren Status erhalten. Voraussetzung für eine solche Duldung sei unter anderem, dass der Betreffende seit mindestens zwölf Monaten geduldet ist, seit mindestens 18 Monaten eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübt und der Lebensunterhalt gesichert ist. Wer bestimmte Straftaten begangen hat, sei ausgenommen, hieß es vom Ministerium.

 

SPIELREGELN FÜR ALLE

 

Die abschließende Frage des Abends lautete „Schaffen wir das?“ Frank Richter bejahte diese Frage, – mit jedoch nachdrücklichem Verweis darauf, dass noch viel zu tun sei und dass man aber das Ausnutzen von den Vorzügen unserer offenen Gesellschaft nicht zulassen dürfe. Dem stimmte Prof. Dr. Bogumil mit einer betont noch optimistischeren Haltung zu. Serap Güler verwies auf das Eingangsstatement ihrer Rede und nutzte ihr Schlusswort, indem sie für einen differenzierteren Ton in der Integrationsdebatte plädierte und forderte, nicht alles in einen Topf zu werfen.  Kritischer zeigte sich Ulrich Reitz: Er wolle und könne diese Frage nicht pauschal beantworten. Denn die Antwort hing ganz davon ab, wie von jetzt an mit bestehenden Herausforderungen umgegangen wird. Fazit: Arbeiten wir an unseren SPIELREGELN, die für ALLE in unserer Gesellschaft gültig sind.